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7.2 Zur Vermittlung von Anweisungen in Benimmbüchern
Wenn wir von "Knigge" sprechen, meinen wir generell ein Buch, das uns über das richtige bzw. angemeßene Auftreten bzw. Verhalten in bestimmten gesellschaftlichen Situationen informiert. Dieser mittlerweile zu einem Gattungsnamen gewordene Begriff "Knigge" erfährt seine Herleitung aus dem Buch "Über den Umgang mit Menschen" des Adolph Freiherr von Knigge. Die Vielzahl von Büchern - bei meiner Recherche in einem Universitätskatalog fand ich u. a. den Internet-Knigge, einen Presserechts-Knigge, den China-Knigge für Manager, einen Uni-Knigge für Frauen usw. - die mit diesem Attribut versehen sind, deutet darauf hin, daß es großen Bedarf an Schriften gibt, die in den richtigen Benimm in unterschiedlichen Situationen einweisen.
Der "Knigge" erscheint erstmalig 1788 und ist zu diesem Zeitpukt das erste Buch seiner Art in Deutschland. "Der Gegenstand dieses Buches kommt mir groß und wichtig vor, und irre ich nicht, so ist der Gedanke, in einem eignen Werke Vorschriften für den Umgang mit allen Klassen von Menschen zu geben noch neu." [7]
Vorbilder gibt es lediglich in der französichen Literatur. Zu nennen wären hier "Cortegiano" von Castiglione und "Caractères" von La Bruyere, die allerdings in dieser Untersuchung keinen weiteren Eingang finden. Der heutigen Auslegung nach ist der "Knigge" eine Anleitung zur Erlernung gesellschaftlicher Umgangsformen. Jedoch beschreibt schon der Autor, Freiherr Adolph von Knigge, daß es ihm in seinem Buch vielmehr um Überlegungen zur "praktischen Lebensklugheit" gehe, aus denen er reichlich schöpfen könne. Beim eher beiläufigen Betrachten der Ausführungen Knigges fällt auf, daß es sich hierbei keineswegs um die vermuteten Belehrungen in steifen Umgangsformen und Manieren handelt, sondern vielmehr um locker und wenig zwanghaft vorgetragene Ratschläge betreffs Umgang mit sich selbst, allgemeiner Höflichkeit im
Umgang mit Anderen usw.. Nachfolgenden Büchern, die unter seinem Namen zirkulieren, ist diese Lockerheit allerdings abhanden gekommen. So sind es wohl eher diese, denen der Name "Knigge" seinen klischeehaften Ruf verdankt.
Der Knigge steht in seiner Haltung im krassen Gegensatz zu den im nächsten Kapitel beschriebenen gesellschaftlichen Tendenzen der heutigen Zeit "mit jenen Autonomievorstellungen, die moderne Individualisierungen begleiten und die gebieterisch die Selbsterfindung des einzelnen proklamieren" [13] und der damit verbundenen Außerachtlassung von Verhaltensnormen. Das Buch erscheint zu einer Zeit, in der man die Gesellschaft noch als schichtspezifisch gegliedert bezeichnen könnte. D.h. die Menschen sind sich ihrer Schichtenzugehörigkeit bewußt und akzeptieren, im Glauben an die Unberbrückbarkeit derselben, die unterschiedlichen Hierarchien. Das seiner Epoche entsprechende Aufklärerische Knigges Buches liegt darin, daß er dem Leser mit seinen Ratschlägen helfen will, diese Hierarchie-Schwellen zu überwinden, indem er ihm angemessenes Verhalten vermittelt. In der Akzeptanz von Hierarchien liegt meiner Meinung nach allerdings auch die Autorität von "Knigge" Benimmbüchern begründet. Als Verhaltensmaßstab werden
die tradierten Benimmregeln des Adels ausgegeben. Es scheint mir, als würde hier das Vorhandensein einer imaginären Autorität höheren Standes beim Leser des Benimmbuches das Einhalten der Regeln gewährleisten bzw. begünstigen. Nicht umsonst ist der Verfasser des Ur-Benimmbuches, Freiherr von Knigge, ein Adeliger.
Bei einem "China-Knigge für Manager" geht es natürlich nicht darum, den tradierten Verhaltens Regeln des Adels zu entsprechen, sondern vielmehr den traditionellen chinesischen Sitten und Gebräuchen. Aber auch hier gibt es eine imaginäre Autorität, in Person des Verfassers, an der ich mich und mein Verhalten zu messen habe. Das Bestreben des Lesers eines solchen Buches dürfte es sein sich durch "Gutes Benehmen" in eine bessere gesellschaftliche Position zu bringen.
Dies scheint mir eine mögliche Antwort auf die Frage, mit welcher Strategie Benimmbücher ihre Verhaltensanweisungen geben, zu sein und auch eine Erklärung dafür, warum uns derartige Benimmbücher mit ihrer antiquierten Weltsicht heute fast ein wenig veraltet erscheinen.
7.3 Ist Lifestyle eine Gebrauchanweisung?
Den zu Beginn dieser Arbeit aufgestellten Definitionen nach zu urteilen, lautet die Antwort "Nein". Lifestyle ist keine GA. Jedoch werden auch hier Anweisungen betreffend Kleidung, Verhalten usw., die zu der Integration in eine soziale Gruppe führen - sei es die Zugehörigkeit zur Upper-class, zu den Skinheads den Hippies usw. - auf irgendeine Weise übermittelt. Dieses geschieht allerdings weder auf schriftlich/bildlich fixierte, noch auf mündliche, sondern auf eine subtile, unausgesprochene Art und Weise. Wirklich scheint es keine Manifeste solcher "Cliquen" bzw. sozialer Gruppen zu geben, in denen sie ihre Erkennungsmerkmale festlegen.
Wie verläuft die Vermittlung dieser Anweisungen dann?
Wichtig für die Dazugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe scheint mir die Erkennung und somit auch die Nutzung der richtigen Zeichen zu sein. So lautet die Palette an Zeichen für einen rassistisch orientierten Skinhead etwa:
Kahl geschorener Kopf,
Lonsdale T-Shirt (Lonsdale: eine Firma, die Sportswear für Boxer herstellt) oder Fred Perry Polo-Hemd (Fred Perry: ein Tennis Austatter),
enge Jeans oder Armee Hose,
an den Füßen Doc Martens (Doc Martens: Englische Arbeiter Schuhe)
mit weißen Schnürbändern.
Die ganze Welt scheint voll von solchen Zeichen zu sein. Und auch ein vermeintliches Nicht-Zeichen stellt noch ein Zeichen dar.
An dieser Stelle ein kleiner Exkurs zu Roland Barthes, der sich in dem Buch "Mythen des Alltags" Gedanken über die "Ikonographie des Abbé Pierre", also Gedanken über die Zeichen des Abbé Piere macht. (Abbé Piere: ein Legende gewordener französischer Arbeiterpriester)
Er beschreibt die Frisur des Abbé als "halb rasiert, ohne Künstelei und insbesondere ohne Form", danach strebend "eine von der Kunst und selbst von der Technik vollkommen abstrahierte Frisur herzustellen, eine Art Nullzustand der Frisur. Man muß sich wohl oder übel die Haare schneiden lassen, aber möge diese notwendige Operation wenigstens keinerlei besondere Daseinsweise implizieren, möge sie sein, aber ohne, daß sie etwas sei." [5] Die Frisur strebt einen Zwischenzustand aus "dem kurz geschnittenen Haar (der unerläßlichen Konvention um nicht aufzufallen) und dem vernachläßigten Haar (Zustand, der zur Bekundung der Verachtung gegenüber den anderen Konventionen geeignet ist)" an. Ein Zustand also der frei von Formalismen und modischen Absichten zu sein scheint. Aber auch diesen Nullzustand von Frisur sieht Barthes als Zeichen an. "Der neutrale Haarschnitt verkündet ganz einfach das Franziskanertum (...) er verkleidet den Abbé in den Heiligen Franziskus." [5]
Ein ähnliches, wenn auch ungewolltes, Prinzip wie bei den Skinheads. Durch die Wahl meiner Zeichen symbolisiere ich meine Gruppenzugehörigkeit.
Dieses Prinzip wird für kommerzielle Zwecke genutzt. Matthias Horx und Peter Wippermann beschreiben in ihrem Buch "Was ist Trendforschung" diese Nutzung des Bedürfnisses der Menschen nach Dazugehörigkeit für kommerzielle Zwecke. So wird hier (in Ahnlehnung an einen Aufsatz von Umberto Eco) die Entscheidung zwischen den Computersystemen MS-Dos und Apple Macintosh einem quasi religiösen Bekenntnis gleichgesetzt. Kaufentscheidungen scheinen generell Bekenntnisse zu sein. Schon an meiner Produktauswahl im Einkaufswagen an der Supermarktkasse wird für andere unter Umständen mein Geschmack ersichtlich, ob ich Geld habe, welche kleineren Leiden mich plagen usw.
Diese Tatsache macht sich die Industrie zu Nutze, indem sie eine variantenreiche Produktpalette bereithält, die unterschiedliche Zielguppen anspricht. Jedoch sind diese Zielgruppen heute wesentlich differenzierter als noch vor hundert Jahren, wo möglicherweise eine gröbere Einteilung in Ober-, Mittel-, und Unterschicht ausgereicht hätte. Auch eine Einteilung in kleinere Gruppen - Skinheads, Hippies, Popper - scheint heute nicht meht auszureichen. Noch kleiner und differenzierter sind die Gruppen geworden. Die Menschen wollen mit ihrer Entscheidung für bestimmte Artikel ihre Individualität herausstellen. Sie wollen aus der großen, groben Masse herausstechen. Horx und Wippermann bezeichnen diese ausdifferenzierte Form der Zielgruppe als "Stilgruppe". Innerhalb dieser "Stilgruppen" haben sie vier aktuelle Tendenzen entdeckt:
1) Lust am Selbst, der Narzißmus-Konsument
2) Lust am Neuen, der Pionier-Konsument
3) Lust an Verantwortung, der Moral Plus-Konsument
4) Lust an Tradition, der Aristokratie Konsument
Daß derartige Tendenzen von der Industrie bedient werden, belegen sie mit einem Beipiel. Das reichhaltige Angebot an diversen Joghurts läßt sich gut verschiedenen Stilgruppen zuschreiben:
Für die Gruppe 1, den Narzißmus-Konsumenten, gibt es einen Joghurt mit "Schoko-Splits". Diese Schokoladenkrümel müssen mit dem Fruchtjoghurt durch Schütteln verbunden werden. Das Essen dieses Joghurts erfordert ein gewisses Maß an Entdeckerlaune, Zeit und Lust. Die Verpackung unterstützt diese Haltungen durch einen großen Randdurchmesser, der zum gierigen Verzehr des Joghurts einlädt, durch gekippte Schrift, die Spontanität und Ungezwungenheit symbolisiert und durch eine Abbildung von Schokostückchen und Kirschen, die das ganze lecker und desserhaft aussehen lassen. Ökologisches Bewußtsein darf hier nicht verlangt werden, denn der Joghurt hat noch einen extra Plastikschutz. Aber dies gehört auch nicht zu den Charakteristika der "Stilgruppe". Ihr geht es vornehmlich um sich selbst, um Spaß- und Lustgewinn.
Für die Gruppe 2 gibt es den LC1 Joghurt von Nestlé. Diesen kennzeichnet sein Etikett, in den Farben dunkelblau und silber gehalten. Die Verpackung ist zylindrisch, perfektionistisch, glatt und maschinell. In keinster Weise wird die Geschmacksrichtung des Joghurts auf dem Etikett erwähnt. Die Botschaft, die übermittelt werden soll lautet: Dies ist ein High-Tech-Produkt. Dafür steht auch der Produktname, der eher an eine chemische Formel erinnern läßt als an ein Naturprodukt. Im Text auf dem Etikett wird erklärt, daß dieser Joghurt - dank einer neuen Bakterienkultur - mehr Energie liefert als herkömmliche. Desweiteren geht es um Gesundheitsförderung und Wohlbefinden. "Gesucht wird die Nähe zu Medikamenten und ihren Beilagezetteln". [6] Die Gruppe der Pionier-Konsumenten interessiert sich, laut Wippermann, für alles, was neu und technologisch innovativ anmutet. Desweiteren würde ich persönlich die Gruppe der Diät- und Fitnessbesessenen als "Stilgruppe", der man sich mit diesem Produkt anzunähern versucht, angeben. Mir scheint, daß vor allem figur- und gesundheitsbewußte Frauen zu diesem und ähnlichen Produkten greifen.
Die Gruppe 3, als Gruppe der moralisch integeren Konsumenten, wird mit dem Landliebe naturmild Joghurt im Mehrwegglas geködert. Dieser spricht in Form und Farbe eine Sprache, die gegensätzlicher zum vorher beschriebenen Produkt kaum sein könnte. Das Pfandglas hat die Form einer stilisierten Milchkanne. Das Etikett ist in Pastelltönen gehalten. Die Schrift ist handgeschrieben und verzichtet auf jegliche Abkürzungen. Hier wird Handarbeit suggeriert. Eine Illustration, die eine handgetöpferte Schale mit Joghurt und einem Holzlöffel darin in mitten eines Grasbüschels zeigt, soll die Naturnähe des Produktes auf den Punkt bringen. Der von Wippermann und Horx mit "Moral plus" titulierte Konsument ist ständig auf der Suche nach einem Sinn. Den fin-det er u. a. darin, daß er ökologisch korrekt anmutende Produkte
kauft. "Nach der Devise "Wir arbeiten daran" versucht er traditionelle Werte und neue Überzeugungen miteinander zu versöhnen. Herauskommen muß ein Sinn, egal ob sozialen Ursprungs oder der Natur verpflichtet." [6]
Die 4. Stilgruppe - der "Aristokratie Konsument" - kauft fettarmen Joghurt von Feinkost Käfer. Hier wird der Joghurt als "Münchner Spezialität von bayrischen Kühen" verkauft. Das Renommee des Delikatessenhändlers Käfer ist hier Hauptausschlaggeber für das Kaufverhalten der Konsumenten. "Kommuniziert wird dieses Selbstverständnis und Selbstbewußtsein in den Nationalfarben Weiß und Blau." [6] Das goldumrahmte Etikett, mit seinen schräg durchlaufenden, blauen Linien, stellt, laut Wippermann, einen Verweis auf die Marinemoden des späten 19. Jhdt. dar. In der Person des unternehmungslustigen Matrosen und Seemann sahen Aristokratie und Bürgertum ihre kolonialistischen Träume aufgehoben. "Aristokraten in diesem Sinne sind all diejenigen, die sich in ihrem Selbstverständnis einem gehobenen Geschmack verpflichtet fühlen. Sie erkaufen es sich über ausgewählte Marken mit entsprechendem Image. Leicht erkennbar sind diese Gruppe und ihre Produkte über eine Renaissance von Kronen, Bourbonenlilien und anderen Siegeln, die als Schmuckformen Verwendung finden." [6]
Soweit zu den verschiedenen Konsumenten Typen von Joghurtsorten. An diesem Beispiel wird deutlich wie die Industrie versucht ihren Produkten ein Stück Weltanschauung mitzugeben.
Die Jugendkultur wimmelt von Zeichen, die, um die richtige Aussage über eine Stilgruppenzugehörigkeit zu treffen, auch richtig kombiniert werden müssen. Welches sind die richtigen Schuhe: New Balance Jogging-Schuhe oder Plateauschuhe von Buffalos? Ziehe ich dazu eine Anzug- oder eine Schlaghose an? Dazu ein 80er Jahre Coka Cola T-Shirt oder ein Chiemsee Pullover? Die Haare gescheitelt oder kahl rasiert? Darf ich meine Haare heute überhaupt noch lang tragen? Trage ich eine "Bubble watch" oder gar keine Uhr?
Bei dem Versuch mich selber einzuordnen, also die Wahl meiner Zeichen preiszugeben käme ich zu folgenden Charakterisierungen:
Die Frisur rechts gescheitelt, dazu Koteletten - eine Hommage an die 70er Jahre. Im Bereich Kleidung zwischen Jugendkultur und Kunstwelt pendelnd, d.h. Anzug-Hosen, Hemden und Jackets vom Großvater oder aus dem Second Hand Laden dazu aber Turnschuhe, besagtes 80er Jahre Coka Cola- oder ähnliche T-Shirts mit willkürlichen Slogans. Bei der Auswahl seiner Kleidung allerdings bewußt auf Marken verzichtend. Somit im Erscheinungsbild den äußeren Codes der urbanen Szene seiner Altersklasse entsprechend.
Im Supermarkt Käse, Gemüse und französischen Rotwein kaufend und eher abfällig diejenigen betrachtend, die Wurst, Fertiggerichte und Limonade in ihrem Einkaufswagen umher schieben. Dazu Milch und Joghurt bisweilen im Pfandglas, also durchaus "Moral Plus" Tendenz. Sich im Freundeskreis damit brüstend nur Arte und 3Sat einzuschalten ("Die anderen Sender bringen nur Müll"), am liebsten französische Filme im Kino zu sehen, täglich Süddeutsche Zeitung und im Urlaub Berthold Brecht zu lesen. Hiermit gezielt die Aura eines Intellektuellen verbreitend. Dennoch gerne seine Leidenschaft für Fußball herauskehrend, um damit seinem erzeugten Image den gewissen proletarischen Akzent also den Bezug zu den einfachen Dingen zu verleihen. Die Schallplatte weiterhin der CD vorziehend, auf das Handy verzichtend, technischem Fortschritt also eher skeptisch gegenüberstehend. Dennoch Computerbesitzer. Hier jedoch den Macintosh - also das Werkzeug und Statussymbol der Kreativen - dem PC - das Werkzeug des Mainstreams - vorziehend. usw.
Alles Codes, die ich mir nicht ausgedacht habe, die einem vielmehr in irgendeiner Weise vermittelt werden. Woher kommen diese Codes? Und wie kommt es, daß Firmen wie H&M (H&M: ein Mode-Warenhaus) in der Lage sind, derartige wirklich schnellebige Dresscodes kurzfristig in Kollektionen aufzufangen? Einem Mythos zur Folge gibt es hierfür den Trendscout der sich permanent an den "hippen" Plätzen des Undergrounds tummelt, um dort die innerhalb der Subkultur gewachsenen Modetrends aufzuschnappen und an die Industrie zu verkaufen. Dieses würde von der Modeindustrie verordnete Trends vermuten lassen. Doch was in anderen Industriezweigen zu funktionieren scheint, was man etwa an Tamagotchi oder Pokemmon Booms bewiesen sieht, scheint gerade bei Mode- u. Popkultur anders zu verlaufen.
Horx und Wippermann beschreiben in ihrem Buch die Herkunft der Trends bis zur heutigen Herrschaft der Trends. Bereits in den 70er Jahren werden im vierteljährlichen Rhytmus neue Trends von den Illustrierten ausgerufen. Diese befinden sich vornehmlich im Bereich Sexualität. So ist in dreimonatigem Abstand von "Neuer Zärtlichkeit", "Neuer Geilheit", "Neuer Treue" dann wieder vom "Trend zum Seitensprung" zu lesen. Eine wirkliche Rolle scheint der Trend allerdings erst ab der Mitte der 80er Jahre in der öffentlichen Wahrnehmung zu spielen. Vor allem die "kulturelle Avantgarde" beruft sich gerne auf den Trend. Postuliert wird dieses auch von Magazinen wie "Tempo" und "Wiener", die sich selbst als Life-Style Zeitschriften verstehen. "Die Botschaft lautet: Wir sind eine kleine Gruppe, die über die neuesten Codierungen der Kultur und Mode genau informiert ist. Mit unserem Lebensstil stehen wir immer in forderster Front. Wir sind immer genau da wo es langgeht." [6] Damit schlagen sie einen Weg ein, der schon immer den Boheme-Kulturen eigen war. So definierten sich auch die linken Polit-Bewegungen der 60er/70er Jahre u. a. über ein solches Selbstverständnis. Doch definierten sie sich auch noch über Inhalte.
"In den Achtzigern bemächtigt sich nur eben eine vorrangig an Ästhetik- und Geschmackskategorien interessierte Kreativ-Jugend der Vorreiterposition." [6]
Als Ursache dieser Entwicklung nennt Horx das Zerbrechen der Alternativkultur bzw. die Einverleibung der Alternativkultur durch den "Mainstream". Ein Phänomen, das sich auch in der Popmusik zeigt. Nachdem 1990 die Gruppe "Nirvana" mit ihrer, bisher der "Indepen-dent Musik" (Independent Musik: bei nicht industriellen, unabhängigen Plattenfirmen erscheinende Musik) zugerechneten, musikalischen Mischung aus Punk und Gitarrenrock ("Grungerock") weltweit einen Nummer Eins Hit hatte, wurde "Grunge" zum neuen Mainstream. Dieses hat bis heute eine stetige Auflösung der Independent-Musik-Kultur zur Folge, denn die ursprünglich kleinen, nicht kommerziellen Independent-Bands wechselten das Lager und veröffentlichten ihre Platten fortan bei großen, industriellen Plattenfirmen. Heute gibt es zwar immer noch fragmentarisch Independent-Plattenfirmen, doch hat dieses System seine Bedeutung verloren, weil Independent Musik Teil des Mainstreams geworden ist.
Auch am Erscheinungsbild der Werbung kann man diese Entwicklung ablesen, mehren sich doch die Werbeanzeigen und -spots großer Firmen, in denen - meist mehr schlecht als recht - Zeichen der Jugendkultur für die eigenen Zwecke mißbraucht werden.
Bis in die frühen 80er Jahre macht man noch die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur. In den politischen Ideologien gibt es noch rechts und links. "Man kann noch dagegen sein und durch Dissens seine Identität definieren. Man kann die Herrschenden noch als Handelnde identifizieren (...)". [6] Solche Polarisierungen verlieren in den beginnenden 90er Jahren ihre Kraft, was sich auch mit der politischen Zeitenwende von 1989, dem Zusammenbruch des Ostblocks, erklären läßt. Dieser "beendete nicht nur ein militärisch-industrielles Imperium, sondern gleichzeitig auch die letzten Reste des idealistischen politischen Denkens. Die Kategorien, links=fortschrittlich=modern und rechts=reaktionär=gestrig stimmen seither noch weniger als zuvor." [6] "Die Popkultur unterminiert die Mauern zwischen Hoch- und Unterhaltungskultur" [6], d.h. alles wird zur Ware. "Die Politik verliert ihre Rolle als gesellschafsformende Kraft - immer mehr läuft sie den komplexen Verhältnissen hinterher, anstatt sie zu prägen (...) die fortschreitende Individualisierung macht den einzelnen zunehmend emanzipierter gegenüber den Systemen (...)". [6] Im Gegenzug verlieren angestammte soziale Gruppierungen an Einfluß und Bedeutung, wie an erster Stelle die Familie, die Parteien, Universitäten, Gewerkschaften und Kirchen. Auch Klassen und Schichtzugeghörigkeit hören auf, eine Rolle zu spielen. Es beginnt "ein Prozeß der Autopoiesis: Die Gesellschaft erzeugt ihre Varianten und Veränderungsprozesse immer mehr im Rahmen einer Art launischer, spontaner Selbstreferenzialität. Gleichzeitig wächst der kulturelle Komplexitätsgrad rapide an. Der kulturelle Überbau, das Netzwerk von Meinungen, Stilen, Überzeugungen, Moden, Attitüden, Gegenmoden, übernimmt zunehmend die Kontrolle über die öffentliche Meinung. Die Mittelstandsgesellschaft (...) erzeugt immer stärker ausdifferenzierte Sinn-Subsysteme: Cliquen, Subkulturen, Lifestyle-Mixturen übernehmen die Rolle kultureller Pioniere, aus Zielgruppen werden Stilgruppen." [6]
Hans Magnus Enzensberger schreibt dazu: "Eine Instanz, die sie zentral zu steuern vermochte, ist in diesen "avancierten" Ländern überhaupt nicht mehr zu erkennen; ja man könnte sogar behaupten, daß es sich um azephale Gesellschaften handelt (...) Natürlich bedeutet dies keineswegs, daß Macht, Reichtum, Chancen in einem solchen Ensemble gleichmäßiger oder gar gerecht verteilt wären. Es heißt nur, daß sich nach der Auflösung festgefügter, hierarchisch gegliederter Standes- und Klassenverhältnisse ein instabiles, dynamisches Fließgleichgewicht bildet, das sich dauernd planlos reproduziert und verändert. Regierungen und Parteien haben in einem solchen System längst aufgehört, die Richtlinien der Politik zu bestimmen oder gar, wie in den alten physiologischen Metaphern, als Kopf, als Gehirn oder als Zentralnervensystem des Ganzen zu fungieren". [16]
Es scheint also so zu sein, daß die Muster unseres Verhaltens - nennen wir sie Trends - in der heutigen Gesellschaft nicht hierarchisch, also weder durch den Trendscout oder die Industrie noch die Politik oder den Adel verordnet sind, sondern vielmehr als ein wechselseitiges Nehmen und Geben angesehen werden müssen, in dem sich jeder auf jeden beruft. Horx und Wippermann fassen dieses Phänomem folgendermaßen zusammen. "Die Existenz einer Trendgesellschaft bedeutet, daß wir kulturellen und sozialen Kräften unterworfen sind, die wir weder kontrollieren noch in einfache Raster fügen können. Wir können uns ihnen auch nicht entziehen. In diesem Netz wechselseitiger Beziehungen sind wir alle Täter und Opfer, Konsumenten und Produzenten gleichzeitig. Das ist für unsere vom idealistischen Individualismus geprägten Selbstbilder nicht gerade schmeichelhaft. Und deshalb treten wir spontan in Abwehr: Trends sind lediglich das, dem die anderen nachrennen, während wir als autonome Ichlinge, selbstverständlich unseren ganz und gar eigenen Kopf haben." [6]
Dennoch vermute ich, ähnlich wie im vorherigen Kapitel, daß als Ideenlieferanten bzw. Kopiervorlage für das eigene Erscheinungsbild immer Autoritäten, d.h. Menschen, die man bewundert oder "cool" findet, zitiert werden. Modedesigner von H&M werden deshalb so schnell auf modische Trends reagieren können, weil sie Teil des ganzen Prozesses sind. Hier wird Mode von Menschen gemacht, die versuchen sich in einem ähnlichen Umfeld zu bewegen wie ihre Zielgruppe und somit den gleichen Einflüssen unterliegt. Die Tatsache, daß jemand weiß, wie er sich seinem Umfeld entsprechend zu kleiden hat, liegt daran, daß er in diesen Kreisen verkehrt.
Klassische Subkulturen dagegen scheinen hierarchisch geordnet zu
sein bzw. funktioniert hier die Weitergabe von Merkmalen hierarchisch. Meiner Vermutung nach trifft dies auf Gruppen zu, die ihre Daseinsberechtigung bzw. ihre Selbst-Definition aus der teilweise aggressiven Abgrenzung zu anderen Gruppen beziehen. So scheinen einige Gruppen - wie die schon genannten Skinheads, aber auch Punks und Rockabillies - auch heute noch ihre strengen Bekleidungscodexe zu besitzen, was möglicherweise an ihrer Verwurzelung in den 50er/60er/70er Jahren liegen könnte, einer Zeit also in der sehr wohl noch das Modell Kultur/Gegenkultur funktioniert hat.
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